„Ihr habt eine Stimme! Ihr habt die Möglichkeit zu handeln!“ Holocaust-Überlebende Lisa Baer trifft Schülerinnen und Schüler aus Nordrhein-Westfalen
„Never Forget“-Projekt der Landesregierung und Zweitzeugen e. V. organisiert internationalen Austausch von Zeitzeugen mit jungen Menschen
Das Treffen ist Teil des Kooperationsprojekts „Never Forget: Transnationale Zweitzeugen-Bildungsdialoge gegen Antisemitismus“ des Vereins Zweitzeugen mit dem Museum of Jewish Heritage in New York City.
Zwischen den Schülerinnen und Schülern der Elsa-Brändström-Realschule in Essen und der Holocaust-Überlebenden Lisa Baer (97) in New York liegen 6000 Kilometer Luftlinie. Doch bei der Videokonferenz spielte die Entfernung keine Rolle. Aus eigenem Erleben berichtete die US-Amerikanerin mit deutschen Wurzeln vom Erstarken des Nationalsozialismus, der Verfolgung ihrer Familie und der Flucht in die Vereinigten Staaten. Das Grauen des Holocausts rückte plötzlich sehr nah.
Das Treffen ist Teil des Kooperationsprojekts „Never Forget: Transnationale Zweitzeugen-Bildungsdialoge gegen Antisemitismus“ des Vereins Zweitzeugen mit dem Museum of Jewish Heritage in New York City. Das Projekt wird vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen mit 60.000 Euro gefördert. Ministerin Brandes hatte bei ihrer New-York-Reise im März 2023 den Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern des Museum of Jewish Heritage angestoßen.
Jack Kliger, Präsident des Museum of Jewish Heritage: „Als Museum haben wir uns der Bildungs- und der Erinnerungsarbeit verschrieben. Wir sind geehrt, mit dem Verein Zweitzeugen zusammenzuarbeiten, um deutsche Schülerinnen und Schüler an die unschätzbar wertvollen Zeugnisse der Überlebenden des Holocausts heranzuführen. Wer den Überlebenden zuhört, wird im wahrsten Sinne ein Zweitzeuge und dazu angeregt, seine Stimme gegen Intoleranz in all ihren Formen zu erheben.“
Ministerin Ina Brandes: „Wir können noch so viele Bücher über den Nationalsozialismus und den Holocaust lesen und werden doch nicht verstehen, wie solche Gräueltaten möglich wurden. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, aus erster Hand zu erfahren, was damals passiert ist. Deshalb sollten wir jede Gelegenheit nutzen, den Zeitzeugen von damals zuhören, um zu erfahren, was sie erlebt und was sie durchlitten haben. Es ist mir eine große Ehre, Lisa Baer kennenlernen zu dürfen. Gemeinsam mit dem Museum of Jewish Heritage und dem Verein Zweitzeugen haben wir das ‚Never Forget‘-Projekt ins Leben gerufen, damit besonders junge Menschen Überlebende des Holocaust kennenlernen können und ihre Geschichte als Zweitzeugen weitertragen können. Es ist noch viel zu tun, damit die Geschichte sich nicht wiederholt!“
Lisa Baer, 1926 in Frankfurt am Main geboren, erzählte von einer Kindheit, die früh von Einschränkungen und Diskriminierungen für Jüdinnen und Juden geprägt war. Ihr Vater durfte nicht mehr arbeiten und wurde krank. Er starb 1934, ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung, an einem Schlaganfall. Die Mutter kümmerte sich um Lisa und um zwei ältere Schwestern.
Lisa Baer: „Ich bin eine der Letzten, die sich daran erinnert, was passiert ist. So viele Menschen wie möglich sollen erfahren, was wir durchgemacht haben. Der Holocaust geschah nicht nur in den Konzentrationslagern. Auch wenn man nicht in einem Konzentrationslager lebte, war das Leben schwierig. Ich möchte sicherstellen, dass gerade die jungen Menschen erfahren, dass dies alles passiert ist. Es ist wirklich passiert. Ich bin der Beweis dafür, dass es passiert ist.“
Als jüngste Schwester wurde sie zum Bäcker geschickt, um Lebensmittel zu tauschen: Fleisch gegen Brot, damit die Familie satt wurde – obwohl dies verboten war und sie sich in große Gefahr brachte. Sie erzählte von den Schrecken der Pogromnacht, als ihre Mutter sich den plündernden Nazis in ihrem Haus entgegenstellte. Sie erzählte von den langen Bemühungen, ein Ausreisevisum für die USA zu erhalten: Die Verwandten in Amerika sammelten Geld, damit das Visum ausgestellt wurde. Schließlich konnte die Familie 1939 mit dem Schiff aus Lissabon nach Amerika flüchten. Lisa Baer zeigte den Schülerinnen und Schülern ihren alten Reisepass und die Packlisten, die bei der Ausreise vorgelegt werden mussten. In New York besuchte Lisa Baer eine Schule in Washington Heights und arbeitete später als Damenschneiderin und Lehrerin für Kunsthandwerk an einer jüdischen Schule. Ihr Ehemann Manfred Baer stammt ebenfalls aus Frankfurt, das Paar hat zwei Kinder.
Die Schülerinnen und Schüler waren von Lisa Baers Lebensgeschichte tief beeindruckt. Die Schülerinnen und Schüler, die an dem Gespräch mit Lisa Baer teilnahmen, besuchen die Klassen 8 und 9 des bilingualen Zweiges der Elsa-Brändström-Realschule in Essen. In einem Workshop mit dem Verein Zweitzeugen hatten sie sich gut auf das Gespräch vorbereitet.
Giorgia (14): „Das war sehr schön und sehr traurig. Man lernt daraus. Jeder Mensch sollte gleichbehandelt werden, immer, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“
Roojin (15): „Wir haben zu Hause und in der Schule jetzt viel zu erzählen, ich nehme da viel mit. Im Gegensatz zu Lisa Baer damals haben wir heute eine Stimme, wir sollten sie nutzen und wertschätzen.“
Emilia (15): „Ich fand beeindruckend, wie gut sie sich noch an Kleinigkeiten erinnern kann. Sie kann über alles sprechen, ihre ganze Geschichte, ohne dass es alte Wunden bei ihr aufreißt – Respekt dafür!“
Zum Abschluss gab Lisa Baer angesichts erstarkender Rechtspopulisten in Europa einen Wunsch mit auf den Weg. Lisa Baer: „Ich wünsche mir, dass die Menschen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Dass sie lernen, dass alle Menschen zählen, dass alle Leben wertvoll sind, egal woher die Menschen kommen und woran sie glauben. Und erinnert euch, dass ihr eine Stimme habt, dass ihr die Möglichkeit habt, zu handeln!“
Die Begegnung mit Lisa Baer ist nicht das Ende einer bewegenden Geschichtsstunde. Zum Zweitzeugen-Prinzip gehört, dass die Schülerinnen und Schüler jetzt selbst aktiv werden und das Gehörte und Gelernte als Zweitzeugen weitertragen – je nach Talent, Neigung und Anlass in mündlichen Vorträgen, als Graphic Recording, Audio- oder Video-Datei, als Theaterstück. Die Essener Schülerinnen und Schüler werden noch in dieser Woche in einem Workshop ein Video aufnehmen, das Lisa Baers Geschichte widerspiegelt.
Ruth-Anne Damm, Co-Gründerin, Geschäftsführung und Vorstand von Zweitzeugen e. V.: „Bald werden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust selbst nicht mehr von ihren Erfahrungen berichten können, gleichzeitig nimmt Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu. Dass beim ‚Never Forget‘-Projekt Jugendliche aus Deutschland und den USA die Chance haben, miteinander und mit Überlebenden online zu sprechen, ist sehr besonders. Wir merken immer wieder, dass der Zugang über persönliche Geschichten wirkt – gegen das Vergessen und Holocaustrelativierung.“
Das Kooperationsprojekt „Never Forget“ bringt in diesem Jahr zwei Schulgruppen aus Deutschland und zwei Gruppen von Jugendlichen aus den USA mit Zeitzeugen zusammen. Aus Deutschland werden neben der Elsa-Brändström-Realschule Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Wolfhelmschule Olfen (13. Klasse) teilnehmen. Sie treffen sich für ein digitales Gespräch mit dem Zeitzeugen Norbert Strauss (Jahrgang 1929), der in Deutschland verfolgt wurde und heute in New York lebt. Aus den USA werden Schülerinnen und Schüler des Bildungsprogramms „Black History Saturdays“ in Tulsa, Oklahoma, sowie Praktikantinnen des Museum of Jewish Heritage in New York City teilnehmen. Sie werden in einer Videokonferenz die Zeitzeugen Eva Weyl (Jahrgang 1935) und Dr. Leon Weintraub (Jahrgang 1926) kennenlernen, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden und heute in den Niederlanden und Schweden leben.
Im Anschluss an die Gespräche mit den Zeitzeugen tauschen die Gruppen sich untereinander aus: Jeweils eine Gruppe aus Deutschland trifft online eine Gruppe aus den USA. Bei einer hybriden Abschlussveranstaltung in der Alten Synagoge in Essen am 25. September schauen alle Beteiligten noch einmal auf die gemeinsame Zeit zurück und stellen ihre Projektergebnisse vor.