Antisemitismusbeauftragte: Noch nie war es so notwendig, dem Judenhass in allen Teilen unserer Gesellschaft energisch und mit Stärke entgegen zu treten

Antisemitismusbeauftragte stellt fünften Jahresbericht über ihre Arbeit sowie über die aktuelle Situation in Bezug auf Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen vor

29. Mai 2024
Vorstellung des Jahresberichts der Antisemitismusbeauftragten Leutheusser-Schnarrenberger

Im Jahr 2023 wurde mit 547 antisemitischen Straftaten in Nordrhein-Westfalen und 5.164 antisemitischen Straftaten in Deutschland ein neuer Höchststand dokumentiert. Insbesondere nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Zahl der antisemitischen Straftaten stark zugenommen: 323 der 547 antisemitischen Straftaten in Nordrhein-Westfalen wurden im vierten Quartal des Jahres 2023 verzeichnet.

Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen

Im Jahr 2023 wurde mit 547 antisemitischen Straftaten in Nordrhein-Westfalen und 5.164 antisemitischen Straftaten in Deutschland ein neuer Höchststand dokumentiert. Insbesondere nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Zahl der antisemitischen Straftaten stark zugenommen: 323 der 547 antisemitischen Straftaten in Nordrhein-Westfalen wurden im vierten Quartal des Jahres 2023 verzeichnet. Diese wurden insbesondere den Phänomenbereichen „religiöse Ideologie“ und „ausländische Ideologie“ zugeordnet. Weiterhin auf hohem Niveau sind die antisemitischen Straftaten aus dem Phänomenbereich rechts (50,2 Prozent).

Die Antisemitismusbeauftragte blickt mit Besorgnis auf die aktuelle Situation: „Das Jahr 2023 wird unverrückbar mit dem 7. Oktober, dem Tag des brutalen Terrorangriffs der Hamas auf Israel, dem bestialischen Morden von wehrlosen, feiernden Zivilisten, jungen und alten Menschen verbunden sein. Dieser Terroranschlag hat die gesamte Situation im Nahen Osten verändert. Der 7. Oktober fand aber nicht nur knapp 3.000 Kilometer weit entfernt statt – sondern hatte auch erhebliche Auswirkungen hier in Nordrhein-Westfalen. Der bestialische Terrorangriff der Hamas hat mich, hat uns alle erschüttert. Was folgte war auf der einen Seite eine in Anbetracht der Brutalität als zu gering empfundene Anteilnahme, auf der anderen Seite eine Verharmlosung des Terrors bis hin zur Verklärung als Freiheitskampf. Auf den ersten Schock folgte bald das vorherrschende Narrativ des ,Albtraum Gaza’. Um es klar zu sagen: Es ist furchtbar und kaum auszuhalten, was die Menschen in Gaza derzeit erleiden. Dennoch dürfen Ursache und Wirkung nicht vertauscht werden: es ist nicht die Frage, ,ob’ Israel gegen die Hamas, deren erklärtes Ziel die Vernichtung Israels ist, vorgehen muss, es ist eine Frage des ,wie’. Es sind noch immer über 100 Geiseln in der Gewalt der Hamas – seit 236 Tagen. Was diese Menschen und ihre Familien durchmachen müssen, ist unvorstellbar. Die Verpflichtung zur sofortigen Freilassung der unschuldigen Geiseln steht für mich an erster Stelle.“

Mit Blick auf Nordrhein-Westfalen erklärt die Antisemitismusbeauftragte: „Mit mehr als durchschnittlich zehn antisemitischen Straftaten pro Woche haben wir in Nordrhein-Westfalen einen erschreckenden Höchststand an antisemitischen Straftaten verzeichnen müssen. Ein Teil der pro-palästinensischen Demonstrationen ist von islamistischen Gruppierungen unterwandert. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind hohe Güter unserer Gesellschaft – wenn aber antisemitische oder israelfeindliche Parolen gerufen werden, sind Grenzen erreicht und häufig überschritten.

Die offiziellen Zahlen der Straftaten spiegeln aber nur einen Teil der veränderten Realität für Jüdinnen und Juden wider. Dazu kommen noch hunderte antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Bei meinen Besuchen in den jüdischen Gemeinden nach dem 7. Oktober wurde deutlich, wie schwierig es für Jüdinnen und Juden auch in Nordrhein-Westfalen geworden ist, einen Weg zwischen religiöser Sichtbarkeit und Sicherheit zu finden. Jüdisches Leben muss als selbstverständlicher Teil in der Mitte unserer Gesellschaft stattfinden können. Hier sind wir alle gefragt – Politik, Zivilgesellschaft, jede und jeder einzelne.“

Die Antisemitismusbeauftragte weiter: „Vor diesem Hintergrund müssen wir immer wieder auch kritisch unsere Strategien der Antisemitismusprävention hinterfragen. Es sind nicht nur die extremen Ränder, die sich hinter dem Antisemitismus versammeln, sondern antisemitische Vorurteile sind anschlussfähig bis in die Mitte unserer Gesellschaft. Und gerade das macht ihn so gefährlich und die Entwicklung und Umsetzung wirksamer Strategien gegen Antisemitismus herausfordernd. Antisemitismus ist ein Problem in und für unserer gesamte Gesellschaft – auch wenn die Mehrheitsgesellschaft ihn nicht tagtäglich wahrnehmen mag. Wir haben gesehen, zu welch gesellschaftlicher Polarisierung und emotional aufgeladenen Debatten die Situation in Nahost auch in unserer Gesellschaft geführt hat. Es kommen seit Jahren auch Menschen zu uns, die ein gefestigtes antiisraelisches oder judenfeindliches Weltbild haben. Wir müssen dieses stärker aufbrechen, zur kritischen Reflexion anregen und an unserer Haltung gegen Antisemitismus, zur Sicherheit Israels und für eine Zweistaatenlösung keinen Zweifel zulassen. Es gibt Schulklassen mit weit mehr als 50 Prozent Migrationsanteil, da müssen wir hinterfragen, ob alle Schülerinnen und Schüler mit unseren Schulmaterialien erreicht werden können oder andere Schwerpunkte bei der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit, insbesondere beim israelbezogenen Antisemitismus, gesetzt werden müssen. Es ist wichtig, dass auch die Behandlung des Nahost-Konflikt verstärkt Platz in den Lehrplänen aller Schulformen erhält. Dazu müssen auch die Lehrkräfte besser befähigt werden, dies zu vermitteln. Die durch die KMK beschlossene verpflichtende Befassung mit dem Thema Antisemitismus in der Lehramtsausbildung muss schnell und flächendeckend umgesetzt werden. Alle Bildungseinrichtungen müssen den Antisemitismus stärker zum Thema machen. Noch immer gilt: antisemitismuskritische Bildungsarbeit ist das effektivste Mittel gegen Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden.

Den Universitäten kommt eine besondere Verantwortung zu, der Radikalisierung der Auseinandersetzung mit Wissensvermittlung und den angemessenen Formaten entgegen zu wirken. Weder im Namen der Wissenschafts- noch der Meinungsfreiheit dürfen antisemitische Narrative gesellschaftsfähig werden. Was wir momentan an Universitäten in Amerika, aber auchin Berlin oder andernorts sehen, ist, dassjüdische Studierende Universitäten mehr und mehr als unsicheren Raum wahrnehmen. Hier sind es insbesondere linksextreme antikolonialistische Narrative, welche die Debatte anheizen. Das trifft leider auch auch auf Nordrhein-Westfalen zu. Universitäten sind Orte der argumentativen Auseinandersetzung, auch zum aktuellen Nahost-Konflikt. Natürlich müssen unterschiedliche Meinungen vertreten werden können. Aber es darf auch von Seiten der Universität nicht im Unklaren bleiben, dass die Morde und Geiselnahmen der Terrororganisation Hamas verurteilt werden.”

Die Antisemitismusbeauftragte erläutert weiter: „Als besondere Herausforderung sehe ich den Bereich der sozialen Medien. Für viele Jugendliche sind die sozialen Medien weit mehr als pure Unterhaltung, sie entwickeln sich zur ersten Nachrichtenquelle. Es werden zu oft einseitige und falsche Informationen verbreitet und von den Jugendlichen unkritisch konsumiert. Medienkompetenz als inhaltliche Kompetenz zur Wirkungskraft sozialer Medien muss prioritär werden. Hier haben wir alle eine große Aufgabe vor uns, die wir in den letzten Jahren nicht ausreichend in den Fokus genommen haben. Dazu braucht es eine gebündelte social-media Strategie, die bestehende Kampagnen einbezieht.

Mit unseren geförderten und selbstdurchgeführten Projekten erreichten wir tausende junge Menschen, schafften Begegnungsformen und initiierten verfestigte Strukturen in Justiz, Verwaltung und Zivilgesellschaft beim Vorgehen gegen Antisemitismus. Nie war es so notwendig, dem Judenhass in allen Teilen unserer Gesellschaft energisch und mit Stärke entgegen zu treten. Ich bedanke mich bei allen, die mich bei meiner Arbeit in diesem und den letzten Jahren unterstützt haben und für ein friedliches Miteinander tagtäglich eintreten.”

Hintergrund

Bundesministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wurde 2019 zur ersten Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen berufen. Im Oktober 2022 wurde sie per Kabinettbeschluss weiterbestellt. Die Antisemitismusbeauftragte initiiert und koordiniert präventive Maßnahmen der Antisemitismusbekämpfung in Nordrhein-Westfalen. Sie fungiert als Ansprechpartnerin für Opfer antisemitischer Übergriffe. Die Tätigkeit erfolgt ehrenamtlich und die Beauftragte legt dem Landtag jährlich einen Bericht über ihre Arbeit vor, um darin Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen zu empfehlen.

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