Einführungsrede von Frau Ministerin Dr. Angelica Schwall-Düren anlässlich der Veranstaltung „14/18 – Europe lessons learnt?“ in der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen bei der Europäischen Union am 24.06.2014
Anrede,
Winston Churchill hat es auf den Punkt gebracht: „Wir können es uns einfach nicht leisten, durch all die kommenden Jahre den Hass und die Rache mit uns fortzuschleppen, die den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit entsprossen sind. Sollte das die einzige Lehre der Geschichte sein, die die Menschheit zu erlernen unfähig ist? Lasst Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Freiheit walten! Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muss ein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein.“ (Rede in Zürich am 19.09.1946)
Anrede,
Winston Churchill hat es auf den Punkt gebracht: „Wir können es uns einfach nicht leisten, durch all die kommenden Jahre den Hass und die Rache mit uns fortzuschleppen, die den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit entsprossen sind. Sollte das die einzige Lehre der Geschichte sein, die die Menschheit zu erlernen unfähig ist? Lasst Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Freiheit walten! Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muss ein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein." (Rede in Zürich am 19.09.1946)
Diese Vision eines geeinten Europa hat Churchill allerdings nicht nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entworfen, sondern 1946 in einer Rede in Zürich. Zehn Millionen gefallene Soldaten und rund sieben Millionen Zivilisten, die durch die Kriegsfolgen ihr Leben verloren, waren die erschreckenden Zahlen aus dem Krieg zwischen 1914 und 1918, aber erst nach entsetzlichen weiteren 65 Millionen Toten, die der Zweite Weltkrieg forderte, hatte die Idee eines gemeinsamen Europa eine Realisierungschance. Heute stehen wir fassungslos vor diesen Zahlen, und trotz der ausführlichen historischen Forschungsarbeiten zum Ersten Weltkrieg gibt es immer noch Fragen, 3
die zu beantworten schwer fällt oder an denen sich unterschiedliche Interpretationen festmachen lassen. Gestatten Sie mir, einige dieser Fragen aufzugreifen.
Es gibt sehr unterschiedliche Blickwinkel auf den Ersten Weltkrieg in den damals beteiligten Ländern. Während in Deutschland der Zweite Weltkrieg und die Zeit zwischen 1933 bis 1939 immer stark im Vordergrund der Betrachtung gestanden hat, wird der Erste Weltkrieg in Frankreich und Großbritannien bis heute als nationales Trauma empfunden. Hier wird vom „Großen Krieg" gesprochen, wenn der Erste Weltkrieg gemeint ist.
Woran liegt das? Sind die Zerstörungen in den Städten, in denen wir aufgewachsen sind, für uns unmittelbarer, offensichtlicher? Die großen Schlachten des 1. Weltkrieges im Westen fanden weit weg von deutschem Staatsgebiet statt, man erlebte den Krieg distanzierter, wenn wir von den Einschränkungen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Lebens einmal absehen. 4
Oder sind es die offensichtlichen Verbrechen, mit denen das „Dritte Reich" Europa überzogen hat, die eine Beschäftigung mit dem Krieg zwischen 1939 und 1945 für die Deutschen unausweichlich gemacht haben und die wegen ihrer Schrecklichkeit alle anderen Erfahrungen in den Schatten stellten?
Kann aus dieser unterschiedlichen Perzeption überhaupt so etwas wie eine gemeinsame europäische Erinnerung an diesen Krieg entstehen? Denken wir heute, nach der langen Zeit des friedlichen Miteinanders in Europa, noch in nationalen Kategorien oder gibt es eine gesamteuropäische Sicht, ein Sich-Erinnern, das über das Gedenken an die Verluste der eigenen Seite hinausgeht?
Eines stimmt mich vorsichtig optimistisch, dass es 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs so etwas wie eine neue Erinnerungskultur geben könnte. Wer in Flandern auf den deutschen Soldatenfriedhof Langemark und den britischen Soldatenfriedhof Tyne Cot geht, die nur wenige Kilometer entfernt voneinander liegen, trifft dort häufig auf dieselben Schulklassen aus verschiedenen Ländern, die neben den Gräbern der eigenen Landsleute auch die der früheren Gegner besuchen. Und fast immer erklären die Führer dieser Schulklassen dann, dass sich im Sommer Jugendliche aus allen kriegführenden Nationen hier treffen, um gemeinsam die Gräber ihrer Vorfahren zu pflegen. 5
Meine Damen und Herren,
keine Frage wird heute so intensiv diskutiert wie die der Verantwortung der beteiligten Regierungen und Militärs für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hineingeschlittert seien die Staaten in den Weltkrieg, meinte der britische Premierminister David Lloyd George. Das Buch von Herrn Prof. Christopher Clark, den ich ganz herzlich hier bei uns begrüße, trägt den Titel „Die Schlafwandler". Als „wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten" hat Clark die handelnden Personen bezeichnet. Dagegen ist im Friedensvertrag von Versailles die deutsche Alleinschuld festgeschrieben. Auch Churchill hat in seiner Rede, aus der ich eben zitiert habe, von den „schrecklichen nationalistischen Zwisten, welche von den teutonischen Nationen ausgelöst worden sind", gesprochen, und er meint damit beide Weltkriege.
Nach der Kriegsschuldkontroverse um den Historiker Fritz Fischer werden Clarkes Forschungsergebnisse in Deutschland im öffentlichen Diskurs wohlwollend betrachtet, während in Großbritannien und vor allem in Serbien von Geschichtsklitterung gesprochen und mit scharfer Kritik auf die Schlussfolgerungen reagiert wird. 6
Und so fragt nicht nur der Publizist Volker Ullrich, ob es in Deutschland ein tief sitzendes Bedürfnis nach historischer Entlastung gibt, dass zumindest nicht der Erste Weltkrieg, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, allein und ausschließlich Deutschland (und Österreich-Ungarn) anzulasten sei (Artikel „Nun schlittern sie wieder" in der Zeit, 24.01.2014).
Doch was waren die Gründe, die zum Ausbruch des Krieges geführt haben? War es der Wunsch Deutschlands, seine Stellung als Hegemonialmacht auf dem Kontinent endgültig zu festigen? War es das Verlangen der Franzosen nach Rache für die Schmach von 1870/71 und die Wiedereingliederung von Elsass-Lothringen nach Frankreich? Fühlten sich Engländer durch den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands und seine militärische Aufrüstung –vor allem durch das ambitionierte Flottenprogramm – so sehr bedroht, dass sie eine bewaffnete Auseinandersetzung als das kleinere Übel ansahen?
Und hatten die Österreicher keine andere Wahl, als Serbien mit dem Ultimatum so unter Druck zu setzen, dass am Ende der Krieg unausweichlich wurde? Und – vielleicht eine der wichtigsten Fragen – hatte die politische Reichsleitung in Berlin überhaupt die Macht, 7
sich gegen die unablässig auf den Krieg drängenden Militärs, die nationalistischen Verleger und Vereinigungen wie den Alldeutschen Verband durchzusetzen?
Waren es also Strukturen, war es die ideologische Verhärtung, die den handelnden Personen keine Möglichkeit zur Deeskalation mehr ließen?
Aber es gab ja nicht nur kampfeslüsterne Militärs, es gab in Europa zu dieser Zeit bereits eine aktive Friedensbewegung. Vor einigen Wochen hatten wir hier zu einer Matinee mit Hanna Schygulla eingeladen, bei der Texte unter anderen von Bertha von Suttner und Romain Rolland gelesen wurden. Diese den Frieden beschwörenden Stimmen waren da, die von Bertha von Suttner sogar mit dem besonderen Gewicht des Friedens-Nobelpreises ausgestattet, aber diese Stimmen gingen im Gedröhne der Kriegs- und Propagandatrommeln unter. Erst unter dem Eindruck der mechanisierten Schlachten, unter dem Schrecken eines Krieges, der so anders und so viel entsetzlicher geführt wurde, als das die in den Kampf ziehenden Soldaten erwartet und aus der Vergangenheit erfahren hatten, erst dann wurde wirklich erkennbar, auf welches sinnlose Sterben sich die kriegsführenden Nationen eingelassen hatten. 8
Erich Maria Remarque, die britischen Dichter Wilfred Owen und Siegfried Sassoon und die bildenden Künstler Otto Dix und der Belgier Frans Masereel seien stellvertretend für viele andere genannt, die diesen Schrecken Ausdruck verliehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ob es letztlich die Schuld im Sinne eines eindeutig definierbaren Verursachers für den Ersten Weltkrieg gegeben hat, wird sich wohl nie eindeutig klären lassen. Tatsache ist aber, dass viele Menschen in vielen europäischen Hauptstädten ihren Teil der Verantwortung dafür tragen, dass fast zehn Millionen Gefallene zu beklagen waren, in Gallipoli und Ypern, in Verdun und in Arras, in Tannenberg und bei Caporetto, an der Somme, im Nahen Osten und in den deutschen Kolonien. Wechselseitige Garantien und Beistandspakte zwischen den Staaten sowie, nach dem Ausrufen des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, der Eintritt der Vereinigten Staaten auf der Seite der Entente-Mächte ließen den militärischen und humanitären Flächenbrand ausufern. 9
Und die Bevölkerung? In Deutschland war die Unterstützung für den Krieg zunächst groß, gar überschwänglich, und bis auf wenige Ausnahmen parteiübergreifend. Noch wenige Wochen vor der Kriegserklärung wollten sich die Sozialdemokraten im Sinne der internationalen Solidarität einem Angriffskrieg verweigern. Aber für sie galt der Zar in Russland als „Schutzherr der politischen Reaktion in Europa", so Prof. Clark in „Die Schlafwandler", und die sozialen Errungenschaften, von denen vor allem die Arbeiter in Deutschland profitierten, schienen es ihnen wert, verteidigt zu werden. Im Übrigen lief die Propaganda-Maschinerie des Militärs erfolgreich auf Hochtouren. Erst in den letzten Kriegsmonaten wurde allmählich auch in der Heimat die düstere Wirklichkeit sichtbar, auf die niemand in Deutschland tatsächlich vorbereitet war. Dazu haben die Zensur, die auch die Briefe der Soldaten nach Hause umfasste, und massive Pressekampagnen wie die der Deutschen Vaterlandspartei entscheidend beigetragen.
Zwar hatte die schlechte Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln zu vielen Toten durch Mangelernährung und Hunger geführt, zwar hatte es im April 1917 und im Januar 1918 große Streiks in Deutschland gegeben, aber immer noch hatte das Bürgertum in seiner Siegeszuversicht keinerlei Verständnis für die nicht nur wirtschaftlichen Sorgen der Arbeiterschaft. 10
Dieser Gegensatz wurde in harten politischen Auseinandersetzungen noch lange nach Kriegsende und mit großer Verbitterung ausgetragen.
Können wir aus diesem monströsen Krieg Lehren ziehen, die für Europa in die Zukunft weisen? Und hätten wir dies tun können, bevor der Zweite Weltkrieg zu noch weit höheren Opferzahlen führte? Es hat Ansätze dazu gegeben, mit Aristide Briand und Gustav Stresemann haben sich ein französischer und ein deutscher Außenminister mit aller Macht in den Zwanziger Jahren für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ausgesprochen: Wir kennen das ernüchternde Ergebnis. Ich bin gespannt, ob Sie, lieber Herr Professor Loth, uns aus deutsch-französischer Sicht etwas an Zuversicht vermitteln können. Und Ihnen, Herr Professor Neitzel, danke ich für Ihre Bereitschaft, uns an Ihren Ergebnissen teilhaben zu lassen aus der Sicht eines Forschers, der Mentalitäten und soziale Fragestellungen zu seinem Schwerpunkt gemacht hat.
Angesichts des Konflikts um die Ukraine ist deutlich geworden, dass die bewaffnete Austragung von Interessensgegensätzen in Europa längst nicht gebannt ist. Kann das Beschwören von nationalen Interessen noch immer den Blick dafür trüben, 11
dass das jeweilige Interesse eines Landes nur in einem gemeinsamen Europa gefunden werden kann? Können unserer Staatenlenker noch immer „blind" werden, wenn sie Gefangene dieser beschränkten Sichtweise sind? Und lassen sich unsere Bevölkerungen noch immer willig in den Kampf führen, wenn man sie glauben macht, dass ihre sozialen Errungenschaften durch aggressive Nachbarn gefährdet seien?
Ist das hoffnungsvolle Bild der britischen Schüler auf dem Friedhof von Langemark, der so lange ideologisch missbraucht worden ist, stark genug, um gegen die mögliche Verblendung zu wirken? Francois Mitterand und Helmut Kohl, Hand in Hand auf dem Friedhof von Verdun fanden im Jahr 1984 zur großen Geste. Was wir brauchen, sind die kleinen Gesten, das Alltägliche, die Normalität des täglichen Lebens. Wenn ich auf die jüngeren Generationen blicke, glaube ich, können wir das schaffen.
Herr Professor Clark, Sie haben das Wort.